„Hass tötet uns alle“ - Holocaust-Überlebender Gerd Klestadt sprach über seine Kindheit und Jugend

Rund 200 Schüler*innen der Tulla-Realschule, des Einstein-Gymnasiums sowie des Anne-Frank-Gymnasiums aus Rheinau begrüßte „Einstein“-Schulleiter Dominikus Spinner am Mittwochmorgen zu einem besonderen Anlass und forderte sie auf „genau hinzuhören“. Denn mit Gerd Klestadt war einer der letzten Zeitzeugen nach Kehl in die Aula des Schulzentrums gekommen, der noch aus eigener Erfahrung von der Verfolgung seiner Familie in der NS-Zeit berichten kann. Eingeladen war er im Rahmen des schul- und grenzübergreifenden Projekts „Koffer der Erinnerung“ der Straßburger Künstlerin Francine Mayran. Gemeinsam mit Projektkoordinator Friedrich Peter stellte sie den heute in Luxemburg lebenden Zeitzeugen vor, dessen Porträt und symbolisch gepackten Koffer sie zugleich präsentierte.

Gerd Klestadt hat bereits zehntausenden Schüler*innen seine Lebensgeschichte im „Dritten Reich“ erzählt und verspürt den Auftrag, die Erinnerung wachzuhalten, zumal in diesen Zeiten: „Das Hakenkreuz ist wieder da, der Rechtsextremismus ist schon wieder am kommen.“ Mit 91 Jahren blickt Klestadt auf ein langes Leben zurück, das doch so früh gewaltsam zu enden drohte. Geboren wurde er in Düsseldorf im Jahr 1932. Der Vater, noch dekorierter Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg und später Jurist am Oberlandesgericht, floh 1936 mit seiner Familie vor der NS-Diktatur in die benachbarten Niederlande. Doch das Exil wurde für die jüdischen Flüchtlinge mit der deutschen Besetzung zur Falle: Nur wenige Juden, die in Holland unter deutsche Besatzung gerieten, wurden nicht ermordet.

Gerd Klestadt wies in seinem Vortrag auf manche Parallele der eigenen Familiengeschichte zu jener Anne Franks hin. Die Flucht in die Niederlande, der Verrat des Verstecks (in der Kleinstadt Baarn östlich von Amsterdam in einem Privathaus gelegen), der Abtransport ins Durchgangslager Westerbork. Ein gutes Jahr von März 1943 an mussten die Klestadts hier in der Gefangenschaft im Ungewissen überleben. Von Westerbork gingen wöchentlich die Züge in die Konzentrations- und Vernichtungslager im Osten, über 100.000 holländische und deutsche Juden wurden von hier deportiert: Auch Gerd Klestadts Großmutter musste mit 71 Jahren in einen solchen Zug steigen mit dem Ziel „Sobibor“: „Keiner wusste, wo Sobibor war“, erinnert sich Gerd Klestadt. Erst später wird er erfahren, dass es ein Vernichtungslager im besetzten Polen ist, von dem es keine Wiederkehr gibt. Ein Glas mit Asche und Erde von den Waldwegen in Sobibor hat der Zeitzeuge mit anderen Gegenständen vor sich gestellt.

Zu den Bildern, die Gerd Klestadt bis heute mit sich trägt, gehört auch die Deportation ins KZ Bergen-Belsen im Februar 1944, die er eindrücklich schilderte. Eines der Bilder auf der Leinwand, das seinen Vortrag begleitete, zeigte eine Reihe Jungs mit Blechnapf und Löffel: „Der Löffel ist das wertvollste Stück Metall, das man haben kann“, schätzt er rückblickend. Man könne einen Löffel etwa zum Graben oder zum Verteidigen nehmen, aber lebenswichtig sei er vor allem für die Suppe, die es im KZ gab.

In Bergen-Belsen, dem Konzentrationslager im heutigen Niedersachsen, starben die unterernährten Häftlinge zu Zehntausenden an den katastrophalen Zuständen im Lager. Fleckfieber, Typhus und andere Krankheiten verbreiteten sich. Der Appell in der Frühe, das Wegtragen der Leichen aus der Baracke, das Ablegen der Toten unter den Bäumen, haben sich Klestadt eingebrannt: „Verwesung ist einer der Gedanken, die ich 24 Stunden in meinem Kopf habe.“ Seinen eigenen Vater kann er eines Morgens Anfang Februar 1945 nicht mehr wecken, er liegt tot neben ihm. Auch die Geschwister Anne und Margot Frank sterben in diesen letzten Monaten des Lagers kurz vor der Befreiung durch die Alliierten. Als die Briten das Lager am 15. April erreichen, sind Gerd Klestadt sowie seine Mutter und sein Bruder bereits von den Deutschen in Viehwaggons verfrachtet worden, um sie noch in ein anderes KZ zu bringen. Doch dem Transport geht die Kohle aus und so wird Klestadt am 13. April von den Amerikanern bei dem Ort Farsleben bei Magdeburg befreit.

Wie viele Überlebende musste Gerd Klestadt das Leben nach dem Überleben bewältigen. Dabei hat ihm seine Frau Charlene geholfen, die ihm auch beim Vortrag zur Seite stand. Und neben der Trauma-Behandlung, die er erst Jahrzehnte nach dem Krieg suchte, hat ihm sicher auch sein Humor geholfen: „Wenn ihr mich einladen würdet zum Essen und es gäbe rote Rüben oder Rosenkohl, würde ich sofort gehen“, gab er lachend zu verstehen in Anspielung auf die tägliche KZ-Kost. „Haben wir aus der Geschichte gelernt?“, fragte Klestadt das Publikum abschließend skeptisch und erinnerte etwa an den Völkermord an den bosnischen Muslimen in Srebrenica. Sein Appell an die Zuhörer*innen war deshalb umso eindringlicher: „Hass tötet uns alle.“ Die ermordeten sechs Millionen Juden dürften nicht vergessen werden, noch die vielen unzähligen Ermordeten weiterer Opfergruppen. Jeder Schülerin bzw. jedem Schüler gab er am Ende seines Vortrags noch etwas mit den Weg: eine kleine Murmel als Erinnerung.

(Hbr)