Jüdisches Leben in Deutschland - Rabbiner Netanel Olhoeft sprach über Alltag, Religion und Vielfalt im Judentum

Am vergangenen Montag hatten die Schüler*innen der Jahrgangsstufe 1 die Gelegenheit, mit dem jungen Rabbiner Netanel Olhoeft ins Gespräch zu kommen. Der gebürtige Berliner lehrt und forscht an der Universität Potsdam am Institut für Jüdische Theologie. Im Dezember 2020 wurde er zum Rabbiner ordiniert. Am Tag, bevor er nach Kehl reiste, war Herr Olhoeft noch bei der jüdischen Gemeinde in Oldenburg zugegen, die er betreut.

In der Cafeteria des „Einsteins“ sprach Netanel Olhoeft zu Beginn in einem kurzen Impulsvortrag über jüdische Lebensrealitäten in Deutschland. Rund 200.000 Jüdinnen und Juden leben heute in der Bundesrepublik, nur knapp die Hälfte davon ist Mitglied einer jüdischen Gemeinde. Viele Jüdinnen und Juden, die in Deutschland leben, sind nach den 1990er Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion emigriert. Deutlich machte Herr Olhoeft die Vielfalt innerhalb der jüdischen Minderheit in Deutschland, thematisierte Unterschiede zwischen „säkularen“ und „observanten“ Juden (letztere befolgen in unterschiedlichem Ausmaß die rabbinische Auslegung der biblischen Gesetze). Er berichtete davon, dass die kleinen jüdischen Gemeinden eher schrumpfen würden, da viele jüngere Menschen in größere Städten ziehen. Nach Berlin, wo die größte Zahl jüdischer Menschen in Deutschland lebt, habe es in der Vergangenheit auch viele liberale israelische Jüdinnen und Juden gezogen, denen Israel zu religiös geworden sei. Dabei bestehe aber bei den allermeisten jüdischen Menschen in Deutschland eine Verbundenheit mit dem Staat Israel, unabhängig davon, ob sie religiös seien oder die Politik der israelischen Regierung teilen würden.

Einzelne Schüler*innen bzw. Kurse hatten sich im Vorfeld Fragen für Herrn Olhoeft überlegt bzw. stellten diese auch spontan in der Veranstaltung. Einige Fragen bezogen sich auf den Alltag und die Auswirkungen des Nahost-Konflikts auf jüdische Menschen. Nach Erfahrungen mit Antisemitismus im eigenen Leben wurde Netanel Olhoeft ebenso gefragt wie zu seiner Wahrnehmung des Aufstiegs rechtsextremer Kräfte oder seinem Blick auf den Nahost-Konflikt und das Handeln der Regierung Netanyahu. Weitere Fragen drehten sich um die Aufgaben eines Rabbiners oder die Frage, worin wesentliche Unterschiede zwischen Judentum, Islam und christlichen Religionen aus seiner Sicht bestehen.

Netanel Olhoeft lieferte neben manchen unerwarteten Einsichten kenntnisreiche Hintergründe, die stets darum bemüht waren, unterschiedliche Positionen auch innerhalb Menschen jüdischen Glaubens aufzuzeigen. Nicht alles, was er ausführte, war für die Schüler*innen immer ganz verständlich – hier zeigte sich der weite Horizont eines Dozenten und Schriftgelehrten. Aber deutlich wurde, dass es nicht das jüdische Leben in Deutschland gibt, sondern wie vielfältig jüdische Lebensrealitäten gestaltet sind.

Begegnung und Austausch sind in dieser Hinsicht bitter notwendig, denn die Sichtbarkeit jüdischen Lebens in Deutschland nimmt aufgrund des zunehmenden Antisemitismus ab. Viele Jüdinnen und Juden haben Angst, Zeichen ihres Glaubens in der Öffentlichkeit zu zeigen. Auch Vertreter der neuen jüdischen Gemeinde in Kehl äußern dies besorgt. Und nur wenige Tage vor dem Besuch von Herrn Olhoeft wurde der erst vor kurzer Zeit eingeweihte Gebetsraum der jüdischen Gemeinde in der Nähe des „Einsteins“ Ziel von Vandalismus. Schließlich waren beim Vortrag des jungen Rabbiners zur Sicherheit zwei Polizisten anwesend – auch das ein trauriges Stück des Alltags von jüdischem Leben in Deutschland.

(Hbr)

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